Samstag, 10. April 2010

62. Ihr überaus würziger Atem

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     Des Jahres vorher kam im September die Enkelin von Smyrna nach Graz und arbeitete unablässig an ihrer Aussteuer. Anfangs März kam der Bräutigam Anton Messner und am 10. März war in der Stadtpfarrkirche Hochzeitsmahl bei ihm. Anderntags war die Abreise nach Pola.

 Pula heute

     Meine arme Frau wurde bei all ihrer Korpulenz immer schwächer. Mit Mühe brachte ich sie zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn. Dort sind wir öfter zum Bahnhof, machten ein paar hundert Schritte Bewegung und nach einem Glas Bier fuhren wir wieder nach Hause. Ich und meine Tochter waren wohl sehr bemüht, die arme, ganz vom Siechtum befallene Frau gut zu verpflegen und ihr nichts abgehen zu lassen. Wenn früher sie im Schlafe recht gemütlich schnarchte, so war dies immer das Zeichen, dass die gute, liebe Frau vollkommen gesund sei. Sie hatte immer noch den überaus würzigen Atem, und es war mir stets eine besondere hohe Lust, ihren süssen, aromatischen Hauch zu schlürfen, wenn wir uns küssten, wobei mir auch immer Schillers Gedicht einfiel: «Ewig starr an deinem Munde hangen, wer enthüllt mir dieses Glutverlangen, wer die Wollust, deinen Hauch zu trinken ...» und so weiter.

     Wie oft dachte ich an folgendes Gedicht, welches ihr geliebter Mangold ihr zu Ehren verfasste:

     Kein Wesen war noch ohne Mängel,
     die Sonne selbst ist nicht von Flecken rein,
     nur Anna war am Körper schon zum Engel
     und macht es Menschen bitter, Mensch zu sein.

     Ich aber hatte, (154) als ich diese gepriesene Anna kennenlernte, die dritte Zeile dieses Gedichtes verbessert, indem ich schrieb:

     nur Anna war an Geist und Körper Engel

und dies beglückte mich.

Nur zu spät fiel mir ein, dass ich ihr zur Zeit ihres bereits mehrmals erwähnten Argwohns meine Verteidigung nicht schriftlich darstellte. Denn ich war mit der Feder immer besser imstande, mich auszudrücken, als mit meiner schwachen Redegabe. Wenn ich ihr vorgestellt hätte, dass ich ihr bei unserer Heirat am Altar vor Gottes Angesicht Liebe, Hochachtung, unerschütterliche Treue und Verehrung zugeschworen, und diesen feierlichen Eidschwur redlich gehalten habe, dass ich stets dem Allmächtigen für die himmlische Gnade, eine so wackere, brave Gattin zu besitzen, täglich dankte, und um beiderseitges friedliches und langes Zuammenleben und Beisammensein innigst betete, etc. etc. Vielleicht wäre sie in sich gegangen und hätte den Urgrund ihres Argwohns eingesehen. Wieviel Leiden, Qualen und traurige Zeiten wären erspart geblieben. Ewig schade um die verlorenen glücklichen Stunden.

     Als ich mir einst bei Beobachtung ihres Schlafes die Bemerkung machte, dass ich meine liebe, arme Frau schon geraume Zeit nicht mehr schnarchen hörte, erkannte ich an ihrem schweren Atem, dass ihre Lunge auch schon Altersschwäche anzeigte, und dass sonach die Spaziergänge unterbleiben mussten.

     Bei unserer goldenen Hochzeit hätte ich herzlich gerne die erwähnte und mich zu meinem Glücke geleitete Stickrahme mit Blumen bekränzt, wenn dieselbe vorhanden gewesen wäre. Unsere zu obiger Feierlichkeit neu angeschaffenen Eheringe wurden dem Brautpaar aus Pola verehrt.

     Gegen September 1882 hatte die arme, altersschwache Frau den Wunsch, ihre beim Ladenwirt auf der Ries im Jahre 1845 liebgewonnene Freundin, die Damenkleidermachersgattin Anna Hansel, die – um 14 Jahre jünger – wegen Fussleiden schon zwei Jahre nicht mehr aus dem Hause war, wieder einmal zu besuchen. Ich kündigte dort an, dass wir morgen, also am Michaeli-Tag erscheinen werden.

     Abends war noch keine Spur eines Unwohlseins meiner lieben Frau erkennbar. Als sie aber andern Tages um 6 Uhr früh aus dem Bette begehrte, sagte die Tochter: «Liebe Mutter, bleiben Sie im Bette, denn Sie haben wieder den Rotlauf über und über!» Oh, wie bange wurde uns allen. Ich erkannte diesen Zustand sogleich als traurige Vorbedeutung. Während der eiligst herbeigerufenene Arzt Rauch gegen Rotlauf sich bemühte, bildete sich bei der armen, geduldigen Frau mit schreckenerregender Schnelligkeit die Wassersucht aus. Ich nahm wieder die brave Wärterin Sinniger auf. Es schien, als  (155)  ob alle Luft, die die Leidende einatmete, zu Wasser würde.

     Ich glaubte vor Angst zu vergehen und lief zu dem erwähnten Studierenden der Medizin und seither berühmt gewordenen Md. Dr. von Hofer, klagte ihm mein Unglück und dieser sehr freundliche Herr ging aus alter Bekanntschaft sogleich mit mir, besichtigte und befühlte die arme Kranke und verordnete dieses und jenes. Im Fortgehen sagte er, alle Mittel seien vergebens, denn Altersschwäche, Lungendampf und Wassersucht seien zuviel auf einmal.

     In meiner Verzweiflung holte ich noch den gegen Wassersucht als sehr geschickt empfohlenen pensionierten, alten Militärarzt Hardegger. Dieser verschrieb auch etwas, machte mir aber keine Hoffnungen.

     Niemand kann sich meinen Schmerz vorstellen, mein so sehr geliebtes und mir ans Herz gewachsene Wesen dem Tode preisgegeben zu wissen. Die Wassersucht nahm furchtbar zu. Drei Personen waren nicht imstande, den zu einem förmlichen Kolosse entstellten Körper zu Bett zu bringen. Ich musste sogleich ein Ruhebett anschaffen. Aber darauf hielt es die arme Kranke auch nicht lange aus. Nach der von der Tochter in die Zeitung gegebenen Notiz: «Gesucht wird ein Mädchen für alles», kam sogleich ein ganzer Schwarm solcher Dienstsuchender. Die das freundlichste und Vertrauen erweckendste Gesicht hatte, wurde aufgenommen. Vom Zimmer des Eduard wurde ein grosser Rollstuh entlehnt und die arme Frau darein plaziert.

     Wir alle vier waren angestrengt. Wenn die Kranke auf den Topf begehrte, mussten die Stärksten die arme Frau vom Stuhl aufheben und aufrecht zu halten trachten bis dass der Dritte den Stuhl beiseite schob und der Vierte den Leibstuhl herbeizog, und das alles sehr geschwind geschehen musste, so war es manchmal schon zu spät. Was gab es da immer zu waschen und zu reinigen und zu lüften. Auf Andringen des Arztes wurde die arme Frau schon am 6. November 1882 versehen. Vorher noch, da sie sich noch bewegen konnte, bat sie mich zum zweiten Male, ich sollte sie zur Mur fahren, damit sie von ihrem Leiden erlöst würde; sie wollte aber, dass wir zusammen sterben sollten. Ich beschwichtigte sie so gut ich konnte und wollte ihr Trost zusprechen, da ich doch selbst trostbedürftig war. Ich bat sie, das vom unergründlichen Ratschluss Gottes ihr auferlegte Leiden geduldig zu ertragen. Es war herzzerreissend, ihren Jammer zu hören: «Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Warum muss ich so viel leiden?» Als sie noch gesund war, da war sie fortwährend Tätigkeit gewöhnt. Jetzt aber durch die lange Untätigkeit und wegen  der schweren Füsse hatte sie Mangel an Bewegung. So ging all ihr Fleisch und Blut in Wasser über, und die dadurch entstandene Faulung erzeugte so unendliche Schmerzen.

     (156)  Am 1. Dezember nachts 1 Uhr verlangte die arme Frau alle um sich, bat uns um Verzeihung für alle Mühen und nahm herzlich Abschied für dieses Leben. Dabei hatte sie eine so engelreine Stimme, dass es mir vorkam, als spräche schon ein verklärter Geist, ihre Seele, aus himmlischen Regionen, zu uns. Voll unendlicher Wut konnte ich nur die Worte hervorbringen: «Ich danke Dir nochmals für Deine unvergleichliche Liebe!» Doch in dem Moment war mir die Kehle fast zugeschnürt, ich konnte nicht mehr sprechen, konnte kaum Atem schöpfen und hätte so gerne mit meinem unglücklichen Weibe noch einiges geredet. Ein heftiges Husten erfasste mich, ich glaubte zu ersticken, musste sogleich zu Bett gehen. Der Arzt hatte zu tun, um mich vor Lungenentzündung zu bewahren. Da lag ich selbst an heftigen Schmerzen und fast bewusstlos darnieder und erkannte nicht, was um mich her vor sich ging. In einem lichten Augenblick kam es mir so vor, meine Gattin wartete auf mich, um mit mir zu sterben. Mir war alles schon eins.

     In einem Halbschlummer hörte ich die arme Frau rufen: «Vater, Vater!» Aber ich war so schwach, dass ich mich nicht melden, nicht rühren konnte und hörte die Wärterin sagen: «Der Vater schläft.» Als ich mich so viel als möglich anstrengte, aus dem Bett zukommen und zur armen Frau zu gehen, sagte der Sohn Eduard: «Bleiben Sie im Bette, die Mutter hat es überstanden!» Welches Herzeleid überkam mich nun!

     Die arme Frau starb am 11. Dezember nachts 1 Uhr in ihrem 82. Lebensjahr ohne die mindeste Spur eines grauen Haares. Bei ihrer, nach überstandenem Typhus erlangten kraftvollen Gesundheit hätte man glauben können, sie würde 90 bis 100 Jahre alt werden. Während ihrer langen letzten Krankheit war die menschenfreundliche Frau Elise Wawrinek ungemein wohltätig. Sie kam fast täglich mit Leckerbissen zur Erquickung der armen Kranken, wofür ich derselben wohl grossen Dank schuldig bin.

     Anderntags kamen die Träger zur Fortschaffung und Aufbarung der Leiche in der Toten- oder Leichenhalle des Allgemeinen Krankenhauses. Ich hatte mein Liebstes auf der Welt zum letzten Male gesehen.

     Wie die Tochter erzählte, wurde die arme Mutter mit dem Seidenkleide von der Hochzeit des Eduard auf die Bare gelegt. Ich durfte nicht aus dem Bett, um die arme, liebe Mutter noch einmal zu sehen. Von der freiwilligen Feuerwehr wurde ein prächtiger Leichenkranz gespendet. Ich ersuchte die arme Wärterin, mir zum Fenster zu helfen, wenn der Leichzug vorbeikäme. Aber gerade an diesem Tag war ein so dichter Nebel wie nie zuvor und nie nachher. Ich konnte nichts als weisse Chorröcke der Leichträger wahrnehmen.

     Nach einigen Wochen wurde der Grabstein gesetzt.

     (157)  Wir alle waren mit der armen Kranken so sehr beschäftigt, dass wir uns abwechselnd vor Ermüdung hin und wieder auf ein Bett legten, um ein wenig auszuruhen. Sei es nun, dass das entlassene Mädchen für alles nicht ganz gesund war oder die Ausdünstung von der armen Mutter so üble Folgen hatte, kurz, die Wärterin, die Tochter und ich am heftigsten wurden von fürchterlichem Reissen am ganzen Leibe geplagt. Diese Pein war entsetzlich. Alle Mittel dagegen wollten nicht helfen. Mit meiner durch Papp und Leim steif gewordenen Schürze kratzte ich und rieb ich an meinem Körper, so weit ich langte. Endlich nahm ich einen ausgedienten, fast zu Holz gewordenen Badeschwamm und rieb aus Leibeskräften, bis ich vor Mattigkeit entschlummerte. Am nächsten Tag stellte sich die Qual nicht mehr ein und die Reisserei war zu Ende.

     Unsere arme, ohnehin durch mehrjähriges Magenleiden geplagte Tochter war von den Strapazen mit der Mutter so entkräftet und geisterbleich, dass selbst der Arzt sich darüber entsetzte. Sie musste acht Tage gleich nach dem Begräbnis der Mutter im Bett bleiben und medizinieren, damit sie sich wieder erholte. Während dieser Zeit hat uns die Frau Gemahlin des Sohnes gewartet und gepflegt. Nach dem Abgange des Mädchens für Alles waren auch einige Wäschestücke abgängig. Bei dem schrecklichen Durcheinander war es unmöglich, auf alles Acht zu geben.
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