Mittwoch, 12. Mai 2010

71. Meine Augen, mein Kreuz, meine Beine

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     Inzwischen kam mir wieder die Lust, zu Pfingsten mit dem Vergnügungszuge nach Wien zu reisen. Ich fuhr per Post am 28. Mai nach Kapfenberg, nahm dort die Tour-Retour-Karte zu 5 Gulden und in zwei Zügen war die Ankunft in Wien um viertel vor 6 in der Früh.

     In Kapfenberg musste ich nebst noch drei Personen wegen Überfüllung des ersten Zuges auf den zweiten warten. Diesmal wurde ich am Bahnhof von Herrn Hayek erwartet und wir fuhren per Omnibus zu ihm nach Hause. Jeder Teilnehmer der Vergnügungsfahrt erhielt eine gedruckte Anweisung mit 14 Coupons zum Besuche von Sehenswürdigkeiten oder Unterhaltungen zu ermässigten Eintrittspreisen.

     Ich sah die Zufahrt zu dem von der Fürstin Metternich im Prater veranstalteten Blumenkorso in grossartiger Gestaltung, wozu über 200 mit Blumen verzierte Wägen samt reich geputzten Damen erschienen waren.

     Dieses Fest dauerte 2 Tage und in der Zeitung stand nachträglich, dass hierbei an den Kassen zu wohltätigen Zwecken über 1000 Gulden eingegangen waren. Schade, dass die Witterung nicht besser war. Jeder Tag blies kalte Luft und zwei- bis dreimal fiel feiner Regen, mitunter auch gussweise. Am 1. Juni, dem einzigen regenfreien Tage während meines 13tägigen Aufenthalts, bin ich mit meiner Tochter per Dampfschiff nach Nussdorf gefahren und mit der Zahnradbahn auf den Kahlenberg . Die ganze Fahrt hin und zurück betrug für uns beide mit Ermässigung 1 Gulden 50 Kreuzer.



(174)  In der zum Hotel gehörigen Waldschänke gab es gutes Bier, der halbe Liter zu 8 Kreuzer. Imbiss hatten wir aus der Stadt mitgenommen. Von der Höhe des Kahlenberges, auf welchem ein hoher Aussichtthurm, die «Stefanie-Warte», erbaut war, hat man eine unvergleichliche Fernsicht nach Osten und Süden. Die Stadt Wien liegt jedoch wegen der vielen Fabriken in den Vorstädten stets in nebelhafter Umdünstung.

     Ein anmutiger Spaziergang, teils durch Waldungen, führt auf den Leopoldiberg, von wo gegen Norden nach Klosterneuburg, Korneuburg und die March-Gegend die Aussicht wahrhaft entzückend ist. Am Pfingstsonntag und -montag, sowie zu Frohnleichnahm wurde überall gearbeitet. Man sah von demolierten alten Häusern den Schutt wegführen, Steine und Ziegel für Neubauten anliefern. Dort und da arbeiteten sogar Pflasterer, und in mancher Gasse bemerkte ich Schuhmacher bei offenem Werkstattfenster im Geschäfte. Bezüglich der Sonntagsheiligung muss es in der Haupt- und Residenzstadt doch nicht so strenge sein.

     Am Frohnleichnamstage wollte ich die Prozession sehen, bei welcher immer der ganze Hofstaat mitgeht. Als ich vor 7 Uhr früh zum äusseren Burgtor kam, war daselbst durch zahlreiche Wachen bereits abgesperrt. Ich machte nun schnelle Füsse, um vielleicht von der Stadtseite einen guten Platz zu erhalten. Aber da war der Zuzug vom Michaeler Platz durch berittene Husaren besetzt. Der ganze Hofstaat war schon in der Michaeler Kirche, von wo aus der Zug zum Kaiser-Josefsplatz zur Stefanskirche bestimmt war. Ich bemerkte, dass hinter den Husaren Karten für 1 Gulden zur Benützung der Tribünen verteilt wurden. Der Kartenbesitzer konnte durch die Husaren fortkommen. Da um 9 Uhr noch niemand aus der Kirche kam und mich vom langen Stehen heftige Schmerzen im Rücken anplackten, mein Warten auch vergeblich war, so ging ich fort, in der Hoffnung, dass die Kreuzschmerzen aufhören werden – und sie verschwanden.

     Da ich in Graz nirgends mehr für meine sehr geschwächten Augen passende Gläser fand, suchte ich solche voriges Jahr in Wien und erprobte sie abends beim Kerzenlichte, wonach ich dieselben als sehr tauglich befunden habe. Allein, nach 14 Tagen zu Hause angelangt, taugten diese Gläser wieder nicht und 1 Gulden 30 Kreuzer waren hinausgeworfenes Geld. Ich wollte nun diese Brille dort, wo ich sie gekauft hatte, gegen bessere umtauschen. Der Optiker war hierzu bereit. Jedoch sagte er, ehe wir so lange herumsuchen, sollte ich meine Augen in der Klinik untersuchen lassen, dort werde ich erfahren, welche Nummer der Gläser ich benötige.

     (175)  Ich ging dann wegen der Kreuzschmerzen von der Michaeler Kirche weg in die Augenklinik, wo ich wegen der Menge Augenleidender sehr lange warten musste, bis ich an die Reihe kam. Nach der über eine Stunde mit allen Apparaten gedauerten Untersuchung erhielt ich den Bescheid, dass ich für mein Alter noch sehr gute Augen habe und keiner Gläser mehr bedürfe. Vorerwähnte Brillen spendierte ich meiner Tochter.

     Am 4. Juni 1888 erlebte ich meinen 80. Geburtstag. Am 10. Juni mittags stieg ich am Südbahnhofe zur Fahrt nach Graz in einen Waggon, in welchem 7 Männer, anscheinend zusammengehörende sich kennende Leute nachkamen. Der Kondukteur hielt dann in diesem Waggon keine Nachschau mehr.

     In Paierbach stiegen die 7 Männer aus und gingen dem Ausgang zu. Da hiess mich der Kondukteur ebenfalls aussteigen. Als ich aber imstande war, zu fragen, warum, war er nicht mehr zu sehen. Als ich dann doch ausstieg, vernahm ich das Zeichen zur Weiterfahrt und war im Begriff, wieder einzusteigen; da kam der Stationschef eiligst herbei und hiess mich, weiter vorne einzusteigen. Da machte ich nun grosse Schritte, aber ach! – in dem Moment, als ich die Eisenstange des letzten Waggons ergreifen wollte, packte mich der mich zeitweise nur des nachts quälende Krampf in der Kniebeuge des linken Beins so heftig, dass ich vor Schmerz hätte laut aufscheien mögen und fast ohnmächtig wurde.

     Es war 4 Uhr, so musste ich auf den um 3/4 7 Uhr von Wien kommenden bis Bruck fahrenden Sekundärzug warten. Mein Bein schmerzte mich sehr. Teils sass ich auf Bänken rum, teils haspelte ich hin und her und hätte genug Zeit gehabt, den Ort Payerbach nach allen Seiten zu durchstreifen, wenn mich das unaufhörliche Wehe nicht gemartert hätte.

     Nun hatte ich freilich bemerkt, warum mich der Kondukteur aussteigen liess, der Wagon, worin ich sass, wurde nebst anderen als leer zurückgelassen.

     Mit dem Sekundärzug kam ich um 10 Uhr abends in Kapfenberg an, postierte mich im Wartesaal auf einer Bank und verzehrte die von Wien mitgebrachte Wurst nebst Rundsemmeln und Wein. Eine Nacht schlafen ging somit verloren, denn bei den Fussschmerzen und dem Gerassel der vielen des nachts hier durcheilenden Zügen ist an ein Einschlafen nicht zu denken.

     Mit neuer Karte zu 1 Gulden 59 Kreuzer fuhr ich von hier um 3 Uhr früh ab, kam um 5 1/2 am Grazer Südbahnhof an, erfrischte mich in der Keplerstrasse mit gutem Kaffee nebst Kipferl zu 8 Kreuzer. In einer Apotheke kaufte ich ein Fläschchen Seifengeist und stolperte dann zur werten Familie Wawrinek, wo ich meinen leidenden Fuss mit Seifengeist fleissig traktierte.
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