Donnerstag, 29. April 2010

66. Meine Zeit in Aflenz

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     Im Jänner 1886 starb der erwähnte, berühmte Schmölzer in Kindberg. Infolge der von der bereits erwähnten Familie Puff angestellten Ränke, Intrigen und Verdriesslichkeiten konnte es der Hayek mit Gattin und der Enkelin Ella im Geschäft des Herrn August Klein nicht mehr aushalten. Er fand in Wien eine andere Anstellung.

     Am Montag, den 22. Feber 1886 reiste Ella samt Kind und meiner Tochter Marie dorthin nach. Die unentbehrlichsten Einrichtungsstücke wurden einige Tage vorher per Bahn expidiert. Der erwähnte Viktor, Sohn meiner Tochter, hatte die Schneiderprofession erlernt. Beim Laibacher Regiment hat er drei Jahre zugebracht und kam vor einigen Jahren als Reservemann nach Graz. Dort trat er der freiwilligen Turner-Feuerwehr bei, wo er einer der verwegendsten, tollkühnsten und einer der ausgezeichnetsten Turner war. Er schloss sich dem Gesangsverein Liederkranz als Sänger an. Seinen Erwerb hatte er bei der Schneiderei. (164)  Wo irgendeine Unterhaltung war oder ein Jux zu stiften gewesen ist, war er einer der Hauptveranstalter. Dieser Viktor war seit 22. Feber 1886 beim grossartigen Stahlwerk des Baron Rothschild zu Wilkowitz in Mähren gegen monatliche 48 Gulden als Beamter angestellt.

     Ich kann nicht umhin, auch von der erwähnten Julie Deanino zu erzählen. Ihr Vater war Kaufmann in Mureck. Ihr Bruder lebte dort als Winkelschreiber, ein zweiter Bruder lebt in Graz als pensionierter städtischer Kassier. Eine Schwester war immer Wirtschafterin bei Herrschaften, und eine Schwester war die sehr vermögliche Witwe Berger, aus deren Grundbesitz in Graz der Volksgarten entstanden ist. Julie hatte zwei kleine Stunden von Mureck einen schönen Wein- und Obstgarten, von wo für unser Gasthaus in Mureck der allerbeste Most bezogen wurde.

     In ihrer Nähe war der Winzerssohn Johann Neuhold, der von Schelmereien als Maurerlehrjunge, 18 Jahre alt, in Radkersburg davongejagt wurde. Seither arbeitete er in Weingärten fleissig und kenntnisvoll, war ein Spassvogel ohne gleichen und besorgte bei der Realität der Julie Deanino alle nötigen Geschäfte. Sie war eine sehr mitleidige Dame, bereitete aus Barmherzigkeit Medikamente für arme Kranke. Nach ihrer Behauptung, dass das Herz nicht alt werde, heiratete sie mit 50 Jahren diesen Burschen.

     Sie brachte es so weit, dass der beim Maurermeister in Radkersburg seine Lehrzeit vollendete und gab ihn in Graz in die Zeichenschule des Baumeisters Lindner, wo er nach erwachten Talenten solche Fortschritte machte, dass er nach kurzer Zeit in Marburg selbst Maurermeister wurde. Er stellte bei der Errichtung der Eisenbahn daselbst für die Südbahn sehr viele Bauten her. Davon konnte er sich zwei Häuser erwerben und nahm im tollen Übermute eine Zuhälterin bei sich auf. Wenn seine geduldige Frau nach Marburg kam, gab er sie für seine Mutter aus.

     Nach einiger Zeit wurde er wegen eines grossen Betruges gegen die Südbahn überführt und auf zwei Jahre Kerker verurteilt. während dieser Zeit besorgte er in allen kaiserlichen Kanzleien das Weisseln und Reparaturarbeiten, da er nur des nachts im Arrest war. Am letzten Tag seiner zwei Jahre Kerker war er mit Weisseln der Stiegen im Landsgericht beschäftigt. Als ich etliche Schriften einzureichen hatte, sagte er in seinen gewohnten Spässen zu mir als alten Bekannten, dass er heute noch so billig arbeite, morgen aber nicht mehr. Er war so pfiffig, sein Besitztum gegen alle Angriffe sicher zu stellen.

     Als er nach einigen Jahren plötzlich starb, kam seine Hinterlassenschaft an die alte Frau Gemahlin, welche seinen unehelichen Kindern aus Edelmut, Mitleid und Barmherzigkeit unaufgefordert aus freiem Antrieb 800 Gulden überliess.

     (165) Weil ich nun in Aflenz viel übrige Zeit habe, repariere ich meine Kleidungsstücke selbst. Diese Arbeit hat früher stets meine gute, mir unvergessliche Frau besorgt. Ich sehe wie beim Schreiben auch beim Einfädeln ohne Augengläser gut. Nun möchte ich erfahren, ob die in der Folge beschriebenen Zustände mit den Augen auch bei mehreren alten Leuten vorkommen wie bei mir: Offenes Licht kann ich nicht vertragen; um jedes Licht im Zimmer oder auf der Gasse ist ein Kreis in allen Farben des Regenbogens. Jeder Stern am Himmel, so wie jedes Licht hat 10 Spitzen. Wenn ich die Mondsichel betrachte, so sehe ich immer 3 oder 4 Halbmonde hintereinander. Schaue ich zum Vollmond hinauf, so zeigt sich ein zweiter hinter ihm. Sehe ich in der Ferne ein Kreuz, einen hohen Baum oder Kirchturm, so erscheint alles doppelt. Das Schönste an allem ist ein Kunstfeuerwerk; wenn von den aufsteigenen Raketen zahllose Funken niederfallen, so ist jeder Funke ein Stern mit 10 Spitzen.

      Wegen meines schwachen Gehörs musste ich schon seit vielen Jahren das Theater und alle Gesellschaften meiden. Nur wenn für das Auge etwas Erfreuliches vorkommt, so war ich gerne dabei. So bin ich am 7. September 1884 nach Bad Gleichenberg  gereist, um dieses Paradies der Steiermark zu sehen.

     Als ich noch Ladenwirt auf der Ries bei Graz war, hatte ich beim Hirschenwirt bei Lustbichl für einen Jägerball dekoriert. Auf Verlangen des erwähnten Ritter von Haidegg musste ich auch beim Schönbrunnwirt den Saal für einem Jägerball dekorieren. Wie ich dann nach demselben für meine Mühe 4 Gulden verlangte, wollte niemand von Bezahlung etwas wissen. «Haidegg», schrie der Wirt, «soll zahlen!». Der Wirt meinte also, Ritter von Haidegg soll zahlen. Nachdem ich deshalb schon mehrere Gänge in die Stadt und nach Schönbrunn an der Maria-Troster-Strasse zu unternehmen hatte, gelang es mir, von beiden die 4 Gulden, somit für Zeitversäumnisse doppelt zu erhalten.

     Haidegg war so geizig; er hatte an der Glacisstrasse 2 zwei-Stock-hohe Häuser und das von meinem Schwager Resch in der Annenstrasse bewohnte Haus, von dem er 70 000 Gulden jährliche Interessen (Zinsen) bezog. Wenn er samt Kinder und Frau bei uns einkehrte, waren 2 Mass Bier und 8 Semmeln die ganze Zeche.

     Den erwähnten Schneider Jukius Korhammer hatte ich damals in der Kanzlei des Dr. Wasserfall untergebracht, als mein Sohn Eduard zum Dr. Rechbauer kam. Nach dem Tode des Dr. Wasserfall wurde Korhammer Sollizitator bei Dr. v. Gräfenstein. Er hatte schon die dritte Ehegattin. Bei meinem Kuvertverkauf in Graz war der Herr Dr. Gmeiner, nachheriger Advokat, meine beste Kundschaft. (166)  Als er am 1. Oktober 1885 nach Bruck übersiedelte, habe ich ihm, um mich hier in Aflenz vor Langeweile zu schützen, bis 17. März 1886 2150 Kuverts gemacht und übersendet.
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Montag, 26. April 2010

65. Besuche in Mureck - Gaunereien - Umzug nach Aflenz

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     Am 29. August 1885 quälte mich die Sehnsucht, die neue Eisenbahn von Spielfeld über Mureck nach Radkersburg zu sehen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich alte Bekannte besuchen. In Mureck kam ich zu dem erwähnten Kaufmann August Kolettnig, obwohl der noch mehr taub und altersschwach als ich war. Dann besuchte ich den Gürtlermeister Robertin und hatte erfahren, dass die erwähnte Lederermeisterstochter Marie Steurer, nun verwitwete Sattlermeisterin Tesch, ganz von Almosen lebte. Nachdem ich bei unserem Aufenthalt in Mureck von 1833 bis 1839 im Hause des Herrn Simon Steurer immer gut aufgenommen wurde, so hatte ich – damals wegen Verzehrsteuergeschäften selbst oft nach Mureck kommend – den Herrn Steurer ersucht, mir jedesmal bei ihm Unterkunft zu gewähren, statt dass ich in Gasthäusern einkehrte. Wir wurden uns um 10 Kreuzer conv. Münze für jedes Frühstück oder Mittagsmahl oder Nachtmahl samt Bett einig.


     (161)  Oben genannte Tochter hatte damals die Hauswirtschaft geführt und war stets um mich besorgt. Da obige 10 Kreuzer gegen die Kosten in gar keinem Verhältnis waren, hatte ich beschlossen, einst nach Möglichkeit eine kleine Vergütung zu leisten.

     Als ich um 8 Uhr früh per Bahn in Mureck ankam und von Gürtlermeister Robertin wegging, regnete es sehr stark. Ich flüchtete mich in die uns gehörig gewesene Besitzung, derzeit ein Gasthaus. Bei der Reparatur dieses Hauses hatte ich an der Aussenseite des Eingangs ein hübsches Portal selbst gemacht, mit oben verzierten Säulen und oberhalb im Gesimse in erhabener Arbeit die ineinenander verschlungenen Buchstaben unserer Namen mit der Jahrzahl in Eichenholz angebracht.

     Im Gastzimmer hing in schönem Goldrahmen der einst dem erwähnten Anton Steurer spendierte Biertrinker. Als ich das gut erhaltene Portal betrachtete, sagte ein im Vorhaus befindliches kleines Mädchen: «Der Vater hat es erst neu angestrichen».

     Ich hätte so gerne die Witwe Tesch besucht, aber der strömende Regen machte mich so misslaunig, dass ich mit dem Mittagszug zurück nach Leibnitz fuhr, wo ich bei dem erwähnten Franz Neupert einkehrte und erst den andern Tag abends wieder in Graz ankam. Gleich darauf sandte ich der armen Witwe Tesch 2 Gulden und zu Weihnachten wieder 2 Gulden. Dem Herrn Knaupert schickte ich das Bild «Die Stadt Zweibrücken», nahe der Grenze zum Elsass, dem Geburtsort seines Vaters Valentin Knaupert, dann das Bild, wie der Kaiser mit der Kaiserin auf dem Starberger See spazieren fährt und dabei ihr Vater die Zither spielt. Einige Tage nach der Rückreise von Mureck las ich in der Zeitung über den Todesfall des August Kolettnigg. Er starb 79 Jahre alt.

     Unzählig viele alte Bekannte starben schon, die meisten in den 70er-Jahren, was mich oft mit Schaudern erfüllte. Wenn ich zurückdenke, dass in den bei Dr. Wasserfall zugebrachten 20 1/2 Jahren aus dessen Kanzlei 9 Schreiber, und in den 9 Jahren bei Dr. Reddi 5 Schreiber mit Tod abgingen, so ist es augenscheinlich die Gnade Gottes und ein grosses Wunder, dass ich nach so vielen harten Arbeiten und mit meinen Leibes- und Seelenkrankheiten noch lebe.

     Wie oft überfällt mich Traurigkeit um meine so heiss und innig geliebte Gattin, und wie schmerzlich ist es, dass sie den Zweifel an meiner Redlichkeit mit ins Grab nahm. Der Schmerz bleibt mir unvergänglich, dass ich nicht imstande war, meine liebe, hochherzige Gattin so glücklich zu machen, als sie es nach ihren wahrhaft echten  (162)  weiblichen Tugenden wirklich verdient hätte. Bei meinem Bette hängt ihr von mir im Jahre 1838 verfertigtes Portrait. Wenn ich dasselbe früh beim Aufstehen und abends beim Schlafengehen mit Innigkeit betrachte und unzählige Male küsse, fallen wohl viele Tränen auf das Glas.

     Ich habe hier noch einiges nachzutragen: Als mein Vater den erwähnten Postdienst wieder verlassen hatte, kam er in das Barmherzigenspital als Krankenwärter und dann nach Gösting zum Grafen Attems.

     Als ich bei der erwähnten Verzehrsteuer-Pachtung bedienstet war, hatte ich einst in der Kanzlei der Herrschaft Halbenrain zu tun, deren Verwalter Wilhem Schlegl und sein Schreiber Auer Erzgauner waren. Ein Bauer liess durch diesen Verwalter ein Sparkassen-Darlehen per 1000 Gulden durch intabulierten Schuldschein erwirken. Da auf dem Bauerngrunde sonst nichts haftete, so fälschte der Verwalter einen Schuldschein auf 1000 Gulden und steckte diese Summe ein, wofür die Zinsen von ihm bezahlt wurden.

     Nach einigen Jahren hatte der Bauer seine Schuld von 1000 Gulden zurückgezahlt und erhielt hierfür von der Sparkasse die Quittung. Als der Verwalter wegen sonstigen Schlechtigkeiten im Arreste sass und sonach für die zweiten 1000 Gulden niemand die Interessen (Zinsen) gezahlt hat, wurde der Bauer von der Sparkasse angeklagt. Dieser, hierüber erschreckt, zeigte derselben die Quittung. «Ja», sagte Dr. Kaiserfeld, «diese lautet auf die ersten 1000 Gulden, aber die Klage bezieht sich auf die zweiten 1000 Gulden». Nun kam die Spitzbüberei des Verwalters auf, wobei Auer gewissenlos mitgeholfen hat. Ich war eben in der Kanzlei, als dieser einen eingebrachten Tabakschwärzer ins Verhör nehmen wollte. «Was?» schrie der Schwärzer, «Sie wollen mir was sagen? Wissen Sie noch, dass ich Ihnen spinnen lernen musste, als sie 2 Jahre im Zuchthaus waren?» Auer warf die Feder weg und eilte hinaus. Wie die Sache mit obigen 1000 Gulden ausging, hatte ich jedoch nicht mehr erfahren.

     Mein Sohn, Dr. Eduard Neuhold, welcher bereits mehrere Jahre als Gerichtsadjunkt beim k.u.k. Landesgericht war, kompetierte nacheinander um die Bezirksrichterstelle in Friedberg, Neumarkt, Kirchbach und Aflenz in der Obersteier. Der Bezirksrichter im letztgenannten Orte, Josef Maier, wurde nach Kirchbach, 3 Meilen östlich von Graz versetzt, und mein Sohn erhielt die Bezirksrichterstelle in Aflenz . Da meinte er, ich solle mit ihm ziehen und bei ihm Ableben haben, dass ich in meinem 78. Lebensjahre einige Ruhe benötigte.


     Vom Jahr 1877 bis 19. Oktober 1885 habe ich im ganzen 381961 Kuverts aller Grössen erzeugt und verkauft und dafür 1780 Gulden 10 Kreuzer eingenommen. (163)  Die besonderen Einnahmen für Mappen, Aktendeckel, Kartandl etc. haben 360 Gulden 88 Kreuzer betragen. Die monatlichen Ausgaben für Papier, Pappendeckel, Gummi, Stärke, Leim, Pinsel, Scherenschleifen etc., für die obigen Geschäfte beliefen sich durchschnittlich auf 9 Gulden 81 Kreuzer. Aber niemand fiel es ein, mich um diese wenigen Erträgnisse zu beneiden oder zu beanstanden.

     In einem von Linz anwesend gewesenen sehr grossen Möbelwagen wurde die ganze Einrichtung des Sohnes mit 4 starken Pferden zum Bahnhof expidiert. Meine Habseligkeiten und das Küchengeschirr des Sohnes kam besonders verpackt zur Bahn.

Am 20. Oktober 1885 sind nun Eduard, dessen Gemahlin, 2 Kinder, ich und die Magd per Bahn nach Kapfenberg und von dort mit der Post nach Aflenz, wo wir mittags um 1 Uhr eintrafen. Wir mussten aber im Hotel zur Post so lange bleiben, bis sämtliche Möbel eintrafen.

Am 21. Oktober übernahm Herr Dr. Neuhold die Amtsgeschäfte und abends war im Hotel zur Post zu Ehren des fortziehenden Bezirksrichters Maier ein grosses Abschiedsfest. Am 22. Oktober kam über die Anhöhe herauf der mit 8 kollosalen Pferden bespannte, grosse Möbelwagen, mit welchem dann die Einrichtung des Herrn Maier nach Kirchbach befördert wurde. Am 24. kam das Übrige aus einem Leiterwagen nach. Da gab es nun viele Arbeit, alles in Ordnung in 4 Zimmern herzustellen und die Küche einzuräumen, wobei sich die Frau Gemahlin des Sohnes in folge Anstrengung eine Unpässlichkeit zuzog und mehrere Wochen im Bett bleiben musste.

     Ich danke dem lieben Gott, dass ich – Altersschwächen abgerechnet – noch so halbwegs gesund und bei Appetit bin. Bisweilen hab ich mit einem Herzkrampf und Krampf in den Füssen bei der Nacht zu leiden. Solche Gebrechen sind in meinem Alter unvermeidlich und geduldig zu erleiden.
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Montag, 19. April 2010

64. Sturz, Lungenentzündung und die Augen

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     (159)  Einst am Armenseelentag kam unsere Zimmerfrau, die Beamtenwitwe Koblitz, und bat um eine Hacke, um ihre unentbehrlichen Bettbretter zu Brennholz zerkleinern zu können. Als ich diese guten Bretter besah, war es mir nach gewohntem Sparsystem leid darum. Ich nahm sie, weil wir in unseren Betten mehrere sehr wurmstichige Bretter hatten, und versprach ihr gutes Brennholz. Ich hatte von meinen früheren Holzarbeiten noch einige Stücke Buchen, Eschen und Nussbaum in der Holzlage auf einer hohen Stelle aufbewahrt. Da ich nicht mehr dazukam, diese Hölzer zu verarbeiten, wollte ich dieselben Frau Koblitz überlassen. Als ich, um die Hölzer zu erlangen, auf eine Truhe stieg, schappte diese um und schlug mir auf das Schienbein. Als der Schmerz dann ärger wurde, zog ich die Stiefel aus und fand eine 6 Zoll lange und mit Blut unterlaufende Wunde und den Fuss ganz geschwollen. Ich brauchte wieder den Arzt und konnte 27 Tage nicht aus dem Haus. Die beiden Vorderfüsse waren lange Zeit verschwollen und ich konnte nur Tuchschuhe tragen.

     Zu Pfingsten nächsten Jahres wollte ich und die Tochter den Eheleuten in Pola einen Besuch abstatten. Das Reisegepäck war schon bereit. Wie gewöhnlich hielt ich nach dem Mittagessen auf eine halbe Stunde ein Schläfchen. Ich fühlte nicht das mindeste Unwohlsein. Aber nach dem Jausenkaffee empfand ich unter den letzten Rippen so heftige Schmerzen, dass der Arzt kommen musste und ich 16 traurige Tage lang mit der unbegreiflichen – wie? – entstandenen Lungenentzündung zu tun hatte.

     Im nächsten Jahr zu Pfingsten kam Messner von Pola mit Frau und Kindern – zwei liebe Mädchen von zwei und drei Jahren. Die liebe Familie blieb zehn Tage bei uns. Nachdem die sehr gross gewachsene talentvolle Enkelin Gabriele – gewöhnlich Ella genannt – die Handelsschule durchgemacht hatte, kam sie in das Galanteriewarengeschäft des Herrn Puff in der Herrengasse als Verkäuferin. Sie war daselbst mehrere Jahre und hatte zwei Sommer lang dieses Geschäft auch im schönsten Badeort Gleichenberg zu besorgen. Mittlerweile geriet Herr Puff bei den Fabrikanten August Klein in Wien so in Schulden, dass dieser auf dem Exekutionswege das ganze Warenlager und das Geschäft an sich brachte. Zur Ordnung derselben hatte Klein auch den Buchhalter Paul Hayek von Wien mitgebracht, welcher mit Ella die Handlung fortführte. Zwischen diesen beiden entstand mit der Zeit ein Liebesverhältnis, wonach Anfangs November 1884 in der Stadtpfarrkirche zu Graz die Eheschliessung erfolgte. Da es an diesem Tage sehr viel zu tun gab, wurde das Hochzeitsessen erst am nächsten Sonntag bereitet und verschnabuliert.

     (160)  Ich fand in Graz keine Gläser mehr, die wie gewöhnlich zum Lesen und Schreiben für meine Augen getaugt hätten. Für den Blick in die Ferne fand ich solche, denn fünf Schritte vor mir erkenne ich leider niemanden. Seit 18. August 1883 habe ich alles ohne Brille geschrieben und gelesen.

     Mit dem erwähnten, seit 30 Jahren in Karlsbad ansässigen Optiker waren wir immer noch in Briefwechsel. Seine Freundschaft für uns ist wohl etwas Seltenes. Er hatte uns nach und nach folgende Preziosen verehrt: 2 schöne Tabakdosen mit Sprudelstein eingelegt und mit Goldgravierung zum Andenken, dann einen Sprudelstein als Briefbeschwerer; für mich als Kalt-Badender einen Thermometer, einen Kapuziner oder Eremiten mit hübscher Klause als Barometer, 20 verschiedene Ansichten von Karlsbad, eine Fotografie von sich nebst Frau und Sohn, dann zu unserer goldenen Hochzeit 2 hübsche Goldringe mit echten Steinen und eingraviertem Datum: «30. Mai 1880»!!!

Als ich ihm im November 1885 vier Landschaften vermachte (vor sechs Jahren hatte ich ihm das Bild des Biertrinkers gesendet), und ihm auch meine Not mit den Augen klagte, hat er mir als Weihnachtspräsent einen Zwicker mit Goldeinfassung – doch nur für die Ferne verwendbar – , dann eine Schachtel voll Oblaten, Karlsbader Spezialität, gesendet. Solche Gunstbezeugungen nenne ich doch echte Freundschaft und edle Gesinnung.

     Bei einem fürchterlichen Sturm im Sommer 1885 wurde der erwähnte und zu riesiger Höhe gelangte Pappelbaum beim Ladenwirt mit allen Wurzen umgerissen. Die Wirtin jammerte, dass ihr dieser Baum nicht um 300 Gulden feil gewesen wäre. Mir selbst und jedem ihrer mit uns bekannten Gäste war es recht leid um diesen Baum als alten Freund.
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Sonntag, 18. April 2010

63. Gehörsturz und Schloss-Reisen

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     Als im Jahre 1880 die Industrie-Ausstellung eröffnet wurde, plagte mich die Neugierde, von aussen etwas sehen zu wollen. Ich ging an der verlängerten Jakominigasse beim Jakominikeller, als mich ein plötzliches Unwohlsein überfiel, wie wenn dies eine Mahnung gewesen sei, dass ich lieber zu Hause bleiben sollte. Nach einem Schluck Wein in obigem Keller war die Übelkeit vorüber. Ich stellte mich dann der Industriehalle gegenüber an einem Baum auf. Nach und nach wurde die Menge der Neugierigen um mich herum grösser. Die Feuerwehrmänner spannten Stricke von einem Baum zum anderen, um die Strasse freizuhalten. Da kam das uniformierte Bürgercorps und die Musikbande stellte sich jenseits des Strickes gerade vor mir auf. Ich war zwischen so viel Publikum wie eingekeilt und konnte nicht die Hand bewegen, um das Sacktuch zu erlangen, den Schweiss vom Gesicht zu wischen.

     Als nun der kaiserliche Prinz daherfuhr, schlug der mit der grossen Trommel so gewaltig in dieselbe, dass ich das Gefühl hatte, als gingen scharfe Messer an meine Ohren. Plötzlich war ich ganz taub. Mein linkes Ohr war schon länger Zeit schadhaft. Ich musste gleich beim Ohrenarzte Ninaus operieren lassen. Nach einigen Tagen war es wieder besser.

     (158)  Von der erwähnten Karoline Hauzendorfer wurde ich mehrmals ermahnt, wieder einmal zu ihr nach Kärnten zu kommen. Am 14. August 1883 fuhr ich nun mit der Rundreisekarte von Graz nach Marburg und Greifenburg, wo ich um 7 Uhr abends ankam und sehr gut empfangen wurde. Mit Herrn Hechenleitner, Ehegatte der Cousine Kerschbaumer, fuhr ich am 15. August nach Weissensee, wo wir uns baden wollten, aber wegen eben badender Damen nicht dazukamen. Nach einer Spazierfahrt auf dem sehr langen See und nach gutem Mittagsmahle fuhren wir wieder heim. Der Tag war sehr heiss und abends war der westliche Himmel mit drohenden Wolken bedeckt. Tags darauf war ein fürchterliches Donnerwetter mit strömendem Regen. Sonntas darauf war die feierliche Eiweihung der neuen Oberdrautaler Schützenhalle, wobei der Herr Fürst Rosenberg, Besitzer der Schlösser Greifenburg und Stein, Sohn des erwähnten Fürsten Rosenberg und der erwähnte Herr Taurer bezüglich des Schützenwesens begeisternde Reden hielten, wonach das heftigste Schiessen auf die jenseits des Gebirgsbaches aufgestellten Scheiben begonnen hatte.


     Sonntags fuhren wir, ich, die gute Karoline und Herr Hechenleitner, nach Dellach , besichtigten das restaurierte Schloss Stein (Bild oben) und die Holzdeckelfabrik (Bild unten) des Herrn Taurer. Gegen Abend bei der Rückfahrt war es sehr kühl , und die gute, feste, glatte Strasse zeigte keine Spur vom gestrigen schweren Regen.


     Ich war bloss vier Tage bei meinen lieben, werten Verwandten und hätte dort länger bleiben können. Aber die Arbeit zu Hause zog mich unwiderstehlich fort. Montag, den 19. August, 3 Uhr nachmittags ging die Fahrt nach Villach. Um 7 Uhr dort auf der Rudolfsbahn nach Leoben, weil ich dort bei der mit dem Lederhändler und Häuserbesitzer Sommeregger verehelichten Tochter des Herrn Wawrinek, aus erster Ehe, einen Besuch vorhatte.


Bis zum Schloss Hochosterwitz  war es noch völlig Tag. Da ging hinter dem Schlosse der Vollmond auf und die Nacht war da. Aber bittere Reue plagte mich nun, dass ich nicht in Villach über die Nacht geblieben bin und sonach die Fahrt nach Leoben nicht bei Tage nützte. Obwohl ich in der schönen Mondnacht meine Blicke nach aussen hatte, konnte ich von allen Städten und anderen Orten nichts wahrnehmen.

     Nachts um 12 Uhr war die Ankunft in Leoben. Mit einem von Gastein gekommenen alten Herren blieb ich im Hotel «Drei Mohren» über Nacht. Als ich andern Tages mich ins Fremdenbuch eintragen wollte, erstaunte ich: Ich trug nämlich seit 1853 Augengläser und konnte ohne solche nichts tun. Jetzt auf einmal sah ich durch dieselben garnichts, aber mit freiem Auge zum Schreiben sah ich besser. Der freie Blick in die Ferne war aber sehr getrübt. In Leoben (Bild) wurde ich von der Familie Someregger recht freundlich aufgenommen. Ich hatte diese schöne Stadt samt Umgebung von allen Seiten betrachtet, war zwei Tage dort und fuhr dann nach Hause.
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Samstag, 10. April 2010

62. Ihr überaus würziger Atem

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     Des Jahres vorher kam im September die Enkelin von Smyrna nach Graz und arbeitete unablässig an ihrer Aussteuer. Anfangs März kam der Bräutigam Anton Messner und am 10. März war in der Stadtpfarrkirche Hochzeitsmahl bei ihm. Anderntags war die Abreise nach Pola.

 Pula heute

     Meine arme Frau wurde bei all ihrer Korpulenz immer schwächer. Mit Mühe brachte ich sie zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn. Dort sind wir öfter zum Bahnhof, machten ein paar hundert Schritte Bewegung und nach einem Glas Bier fuhren wir wieder nach Hause. Ich und meine Tochter waren wohl sehr bemüht, die arme, ganz vom Siechtum befallene Frau gut zu verpflegen und ihr nichts abgehen zu lassen. Wenn früher sie im Schlafe recht gemütlich schnarchte, so war dies immer das Zeichen, dass die gute, liebe Frau vollkommen gesund sei. Sie hatte immer noch den überaus würzigen Atem, und es war mir stets eine besondere hohe Lust, ihren süssen, aromatischen Hauch zu schlürfen, wenn wir uns küssten, wobei mir auch immer Schillers Gedicht einfiel: «Ewig starr an deinem Munde hangen, wer enthüllt mir dieses Glutverlangen, wer die Wollust, deinen Hauch zu trinken ...» und so weiter.

     Wie oft dachte ich an folgendes Gedicht, welches ihr geliebter Mangold ihr zu Ehren verfasste:

     Kein Wesen war noch ohne Mängel,
     die Sonne selbst ist nicht von Flecken rein,
     nur Anna war am Körper schon zum Engel
     und macht es Menschen bitter, Mensch zu sein.

     Ich aber hatte, (154) als ich diese gepriesene Anna kennenlernte, die dritte Zeile dieses Gedichtes verbessert, indem ich schrieb:

     nur Anna war an Geist und Körper Engel

und dies beglückte mich.

Nur zu spät fiel mir ein, dass ich ihr zur Zeit ihres bereits mehrmals erwähnten Argwohns meine Verteidigung nicht schriftlich darstellte. Denn ich war mit der Feder immer besser imstande, mich auszudrücken, als mit meiner schwachen Redegabe. Wenn ich ihr vorgestellt hätte, dass ich ihr bei unserer Heirat am Altar vor Gottes Angesicht Liebe, Hochachtung, unerschütterliche Treue und Verehrung zugeschworen, und diesen feierlichen Eidschwur redlich gehalten habe, dass ich stets dem Allmächtigen für die himmlische Gnade, eine so wackere, brave Gattin zu besitzen, täglich dankte, und um beiderseitges friedliches und langes Zuammenleben und Beisammensein innigst betete, etc. etc. Vielleicht wäre sie in sich gegangen und hätte den Urgrund ihres Argwohns eingesehen. Wieviel Leiden, Qualen und traurige Zeiten wären erspart geblieben. Ewig schade um die verlorenen glücklichen Stunden.

     Als ich mir einst bei Beobachtung ihres Schlafes die Bemerkung machte, dass ich meine liebe, arme Frau schon geraume Zeit nicht mehr schnarchen hörte, erkannte ich an ihrem schweren Atem, dass ihre Lunge auch schon Altersschwäche anzeigte, und dass sonach die Spaziergänge unterbleiben mussten.

     Bei unserer goldenen Hochzeit hätte ich herzlich gerne die erwähnte und mich zu meinem Glücke geleitete Stickrahme mit Blumen bekränzt, wenn dieselbe vorhanden gewesen wäre. Unsere zu obiger Feierlichkeit neu angeschaffenen Eheringe wurden dem Brautpaar aus Pola verehrt.

     Gegen September 1882 hatte die arme, altersschwache Frau den Wunsch, ihre beim Ladenwirt auf der Ries im Jahre 1845 liebgewonnene Freundin, die Damenkleidermachersgattin Anna Hansel, die – um 14 Jahre jünger – wegen Fussleiden schon zwei Jahre nicht mehr aus dem Hause war, wieder einmal zu besuchen. Ich kündigte dort an, dass wir morgen, also am Michaeli-Tag erscheinen werden.

     Abends war noch keine Spur eines Unwohlseins meiner lieben Frau erkennbar. Als sie aber andern Tages um 6 Uhr früh aus dem Bette begehrte, sagte die Tochter: «Liebe Mutter, bleiben Sie im Bette, denn Sie haben wieder den Rotlauf über und über!» Oh, wie bange wurde uns allen. Ich erkannte diesen Zustand sogleich als traurige Vorbedeutung. Während der eiligst herbeigerufenene Arzt Rauch gegen Rotlauf sich bemühte, bildete sich bei der armen, geduldigen Frau mit schreckenerregender Schnelligkeit die Wassersucht aus. Ich nahm wieder die brave Wärterin Sinniger auf. Es schien, als  (155)  ob alle Luft, die die Leidende einatmete, zu Wasser würde.

     Ich glaubte vor Angst zu vergehen und lief zu dem erwähnten Studierenden der Medizin und seither berühmt gewordenen Md. Dr. von Hofer, klagte ihm mein Unglück und dieser sehr freundliche Herr ging aus alter Bekanntschaft sogleich mit mir, besichtigte und befühlte die arme Kranke und verordnete dieses und jenes. Im Fortgehen sagte er, alle Mittel seien vergebens, denn Altersschwäche, Lungendampf und Wassersucht seien zuviel auf einmal.

     In meiner Verzweiflung holte ich noch den gegen Wassersucht als sehr geschickt empfohlenen pensionierten, alten Militärarzt Hardegger. Dieser verschrieb auch etwas, machte mir aber keine Hoffnungen.

     Niemand kann sich meinen Schmerz vorstellen, mein so sehr geliebtes und mir ans Herz gewachsene Wesen dem Tode preisgegeben zu wissen. Die Wassersucht nahm furchtbar zu. Drei Personen waren nicht imstande, den zu einem förmlichen Kolosse entstellten Körper zu Bett zu bringen. Ich musste sogleich ein Ruhebett anschaffen. Aber darauf hielt es die arme Kranke auch nicht lange aus. Nach der von der Tochter in die Zeitung gegebenen Notiz: «Gesucht wird ein Mädchen für alles», kam sogleich ein ganzer Schwarm solcher Dienstsuchender. Die das freundlichste und Vertrauen erweckendste Gesicht hatte, wurde aufgenommen. Vom Zimmer des Eduard wurde ein grosser Rollstuh entlehnt und die arme Frau darein plaziert.

     Wir alle vier waren angestrengt. Wenn die Kranke auf den Topf begehrte, mussten die Stärksten die arme Frau vom Stuhl aufheben und aufrecht zu halten trachten bis dass der Dritte den Stuhl beiseite schob und der Vierte den Leibstuhl herbeizog, und das alles sehr geschwind geschehen musste, so war es manchmal schon zu spät. Was gab es da immer zu waschen und zu reinigen und zu lüften. Auf Andringen des Arztes wurde die arme Frau schon am 6. November 1882 versehen. Vorher noch, da sie sich noch bewegen konnte, bat sie mich zum zweiten Male, ich sollte sie zur Mur fahren, damit sie von ihrem Leiden erlöst würde; sie wollte aber, dass wir zusammen sterben sollten. Ich beschwichtigte sie so gut ich konnte und wollte ihr Trost zusprechen, da ich doch selbst trostbedürftig war. Ich bat sie, das vom unergründlichen Ratschluss Gottes ihr auferlegte Leiden geduldig zu ertragen. Es war herzzerreissend, ihren Jammer zu hören: «Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Warum muss ich so viel leiden?» Als sie noch gesund war, da war sie fortwährend Tätigkeit gewöhnt. Jetzt aber durch die lange Untätigkeit und wegen  der schweren Füsse hatte sie Mangel an Bewegung. So ging all ihr Fleisch und Blut in Wasser über, und die dadurch entstandene Faulung erzeugte so unendliche Schmerzen.

     (156)  Am 1. Dezember nachts 1 Uhr verlangte die arme Frau alle um sich, bat uns um Verzeihung für alle Mühen und nahm herzlich Abschied für dieses Leben. Dabei hatte sie eine so engelreine Stimme, dass es mir vorkam, als spräche schon ein verklärter Geist, ihre Seele, aus himmlischen Regionen, zu uns. Voll unendlicher Wut konnte ich nur die Worte hervorbringen: «Ich danke Dir nochmals für Deine unvergleichliche Liebe!» Doch in dem Moment war mir die Kehle fast zugeschnürt, ich konnte nicht mehr sprechen, konnte kaum Atem schöpfen und hätte so gerne mit meinem unglücklichen Weibe noch einiges geredet. Ein heftiges Husten erfasste mich, ich glaubte zu ersticken, musste sogleich zu Bett gehen. Der Arzt hatte zu tun, um mich vor Lungenentzündung zu bewahren. Da lag ich selbst an heftigen Schmerzen und fast bewusstlos darnieder und erkannte nicht, was um mich her vor sich ging. In einem lichten Augenblick kam es mir so vor, meine Gattin wartete auf mich, um mit mir zu sterben. Mir war alles schon eins.

     In einem Halbschlummer hörte ich die arme Frau rufen: «Vater, Vater!» Aber ich war so schwach, dass ich mich nicht melden, nicht rühren konnte und hörte die Wärterin sagen: «Der Vater schläft.» Als ich mich so viel als möglich anstrengte, aus dem Bett zukommen und zur armen Frau zu gehen, sagte der Sohn Eduard: «Bleiben Sie im Bette, die Mutter hat es überstanden!» Welches Herzeleid überkam mich nun!

     Die arme Frau starb am 11. Dezember nachts 1 Uhr in ihrem 82. Lebensjahr ohne die mindeste Spur eines grauen Haares. Bei ihrer, nach überstandenem Typhus erlangten kraftvollen Gesundheit hätte man glauben können, sie würde 90 bis 100 Jahre alt werden. Während ihrer langen letzten Krankheit war die menschenfreundliche Frau Elise Wawrinek ungemein wohltätig. Sie kam fast täglich mit Leckerbissen zur Erquickung der armen Kranken, wofür ich derselben wohl grossen Dank schuldig bin.

     Anderntags kamen die Träger zur Fortschaffung und Aufbarung der Leiche in der Toten- oder Leichenhalle des Allgemeinen Krankenhauses. Ich hatte mein Liebstes auf der Welt zum letzten Male gesehen.

     Wie die Tochter erzählte, wurde die arme Mutter mit dem Seidenkleide von der Hochzeit des Eduard auf die Bare gelegt. Ich durfte nicht aus dem Bett, um die arme, liebe Mutter noch einmal zu sehen. Von der freiwilligen Feuerwehr wurde ein prächtiger Leichenkranz gespendet. Ich ersuchte die arme Wärterin, mir zum Fenster zu helfen, wenn der Leichzug vorbeikäme. Aber gerade an diesem Tag war ein so dichter Nebel wie nie zuvor und nie nachher. Ich konnte nichts als weisse Chorröcke der Leichträger wahrnehmen.

     Nach einigen Wochen wurde der Grabstein gesetzt.

     (157)  Wir alle waren mit der armen Kranken so sehr beschäftigt, dass wir uns abwechselnd vor Ermüdung hin und wieder auf ein Bett legten, um ein wenig auszuruhen. Sei es nun, dass das entlassene Mädchen für alles nicht ganz gesund war oder die Ausdünstung von der armen Mutter so üble Folgen hatte, kurz, die Wärterin, die Tochter und ich am heftigsten wurden von fürchterlichem Reissen am ganzen Leibe geplagt. Diese Pein war entsetzlich. Alle Mittel dagegen wollten nicht helfen. Mit meiner durch Papp und Leim steif gewordenen Schürze kratzte ich und rieb ich an meinem Körper, so weit ich langte. Endlich nahm ich einen ausgedienten, fast zu Holz gewordenen Badeschwamm und rieb aus Leibeskräften, bis ich vor Mattigkeit entschlummerte. Am nächsten Tag stellte sich die Qual nicht mehr ein und die Reisserei war zu Ende.

     Unsere arme, ohnehin durch mehrjähriges Magenleiden geplagte Tochter war von den Strapazen mit der Mutter so entkräftet und geisterbleich, dass selbst der Arzt sich darüber entsetzte. Sie musste acht Tage gleich nach dem Begräbnis der Mutter im Bett bleiben und medizinieren, damit sie sich wieder erholte. Während dieser Zeit hat uns die Frau Gemahlin des Sohnes gewartet und gepflegt. Nach dem Abgange des Mädchens für Alles waren auch einige Wäschestücke abgängig. Bei dem schrecklichen Durcheinander war es unmöglich, auf alles Acht zu geben.
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Donnerstag, 8. April 2010

61. Unser Sohn Eduard

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(151)  Nun begann wieder eine neue Wirtschaft. Ich musste beim Couvertmachen meinen Fleiss verdoppeln, doch konnte ich nicht so viele erzeugen, als ich hätte verkaufen können. Mehrere Herren Advokaten, die mich von der Kanzlei her kannten, und Kaufleute waren meine grössten Abnehmer. Nebenbei machte ich Kartandeln in allen Grössen, Aktendeckel und noch Verschiedenes. Nach Errichtung neuer Grundbücher erhielt ich durch Vermittlung meines Sohnes von den Bezirken Umgebung Graz, Voitsberg, Arnfels, Radkersburg und Leibnitz Arbeiten zum Zerschneiden der in den Jahren 1823 und 1824 errichteten Katastermappen, welche in 4 Quadraten auf Kattun aufkaschiert und zusamengelegt wurden. Zu jeder Mappe gehörte ein Futteral, deren ich über 200 machte. Ich hätte mich gerne um diese einträgliche Arbeit für andere Bezirke gekümmert, aber ich getraute mich nicht von Graz fort, um bei meiner armen Frau nicht in den Verdacht eines vermeintlichen Seitensprunges zu geraten.

 
 Gemälde (Guache) von Johann Neuhold. Original bei Brigitte Winkler in München

     In den Wohnungen in der Klosterwiesgasse und im Ersten Sack benützte ich jeden Augenblick zum Malen. Ohne je von einem Maler einen Pinselstrich gesehen zu haben, zeichnete ich die in illustrierten Blättern vorkommenden Landschaften nach und malte nach eigener Idee mehr als 20 Landschaften und Bilder mit Karikaturen. Im Jahr 1870, nach dem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, war in den Münchner Fliegenden Blättern ein Bild, wie der Kaiser Wilhelm mit Napoleon spazieren geht und beide sich nach der Seite betrachten, als ob sie sagen wollten, wer von uns war in diesem Kriege der Gescheitere? Von diesen Bildern machte ich bloss die ausdrucksvollsten Gesichter in Lebensgrösse in Tuschmanier nach, acht Stück à 1 Gulden, welche reissend abgingen.

Wenn ich momentan 100 Stück gehabt hätte, würden alle wegen Portrait-Ähnlichkeit anzubringen gewesen sein. Besonders die Spitzbuben-Physiognomie des Napoleon gelang mir vortrefflich. Es war oft ein harter Kampf zwischen Pflicht und Liebe. Pflicht wäre es von mir gewesen, mit meiner lieben Frau noch mehr spazieren zu gehen, aber die unglaubliche Liebe zur Malerei erhielt manchmal die Oberhand. Mehrseitig erhielt ich die Versicherung, und spürte es auch in mir, dass ich es zu einem Künstler gebracht haben würde, wenn ich in einer Akademie hätte ausgebildet werden können.

     Dem im Jahre 1853 als Ladenwirt auf der Ries gekommenen Herrn Slawitsch hatte ich zum Andenken 19 Figurenbilder verehrt. Jeder Gast, der mich von früher her kannte, erzählte mir, dass er dort meine Bilder gesehen, die ihm gefallen hatten. Wenn ich in Zeitungen gelesen hatte, dass aus einem armen und unscheinbaren, aber zur Malerei talentvollen Knaben ein berühmter Künstler wurde und zu Vermögen und  (152)  hohem Ansehen gelangte, da fühlte ich wohl namenloses Wehe und unaufhörlich flossen die Tränen. Ich erkannte mit Traurigkeit, dass mein ganzes Leben verhunzt war, denn die Passion und Vorliebe zur Malerei peinigte mich noch immer, obwohl ich schon seit 9 Jahren wegen dem Zittern keinen Pinsel mehr in Händen hatte und dieses Lieblingsvergnügen nicht mehr durchführen konnte.

     Nachdem unser Sohn Dr. Eduard Neuhold von der Turnerei zur freiwilligen Feuerwehr überging und dabei Schriftführer geworden ist, wurde er nach allen Seiten mit den Feuerwehren teils schriftlich und teils persönlich bekannt. Unter den erwähnten drei Gürtler-Gesellen war auch der nun Meister, Hausbesitzer und Gemeinderat Rosenbauer in Linz, welcher sich erkundigte, ob der in den Feuerwehrschriften benannte Dr. Neuhold ein Abkömmling jener Familie von der Ries wäre. Auf ein Schreiben hierüber kam Rosenbauer nach Graz. Er war ein schöner, fetter Mann mit prächtigem Vollbart. Als wir mit ihm zum Hilmteich spazierten, konnte er am Rückweg sich gar nicht enthalten, unsere Tochter als Bekannte recht abzuküssen.

Unser Sohn Eduard wurde auch mit dem Feuerwehr-Hauptmann Watzka, Ingenieur in Bruck, bekannt. Als dieser nach Graz als k.u.k. Staatshalterei-Ingenieur übersiedelte und selbst in der Naglergasse eine prachtvolle, geräumige Villa erbauen liess, wurde die Bekanntschaft fortgesetzt und Eduard verlobte sich mit der ältesten, 24jährigen Tochter Auguste.

     Wir wurden zur Hochzeit geladen. Ich aber bedeutete meiner verehrten Gattin, dass wir lieber zu Hause bleiben wollten, da wir in eine so vornehme Gesellschaft nicht passten. Die gute Frau hatte jedoch den Wunsch, dabei zu sein. So musste für sie und Marie erstklassige seidene Kleider angeschafft werden, welche bei einer renomierten Kleiderhändlerin am Mehlplatz zu erhalten waren. Für die arme Frau mussten wegen ihrer geschwollenen Füsse besonders passende Schuhe gemacht werden.


     Am 17. August 1882 wurden wir vom Fiaker abgeholt. als wir die arme Frau in den Wagen hoben, fiel sie bei der Schwere und Unbeholfenheit hinein, und wir samt Kutscher hatten grosse Mühe, sie auf ihren Sitz zu bringen. Die Zusammenkunft aller Geladenen war in der Villa. Vier pensionierte Hauptleute in Uniform, dann Herr Major Plank in Parade, dessen Schwestern und viele Damen und Herren waren zugegen. Als sich alle zur Abfahrt bereiteten, war mit meiner Frau beim Einsteigen die ähnliche Tour. Der Herr Sohn Watzka stieg von der anderen Seite in den Wagen und half der armen Frau hinauf. Der Zug ging dann in 14 Wägen über Umwege zur Domkirche. Bei solchen Gelegenheiten versammelte sich in und vor der Kirche immer ein grosses Publikum. (153)  Als ich meine liebe Frau aus dem Wagen hob und ihre geschwollenen Füsse bemerkt wurden, lachte das unverschämte Volk, was mir im Herzen sehr weh tat. Ich hatte sehr lange zu tun, meine nassen Augen zu trocknen.

     Herr Domherr Hebenstreit vollzog die eheliche Verbindung. Nach derselben fuhr die ganze Gesellschaft zum Hotel Daniel, wo ausgezeichnete Tafel war. Hier wurde ein dreifaches Fest abgehalten, nämlich die silberne Hochzeit der Eltern Karl und Anna Watzka, dann die Ernennung des Sohnes als k.u.k. Notar zu Arnoldstein in Kärnten und die Heirat der Tochter Auguste mit Dr. Eduard Neuhold.

     Bei Tische behagten mir und der lieben Frau Rheinlachs und Aal am besten. Von der ganzen noblen Gesellschaft wurden wir schon wegen des ungeheuren Alters mit aller Aufmerksamkeit behandelt. Um 11 Uhr nachts fuhren wir nach Hause.

     Oberhalb unserer Wohnung nahm Eduard eine solche im 2. Stock, welche der Herr Watzka pracchtvoll einrichten liess. Das von Eduard innegehabte Zimmer wurde an zwei Advokatensöhne von Arnfels und Völkermarkt vergeben. Als diese studierte hatten, erhielt  eine Beamtenwittwe aus Ungarn, Frau Konlitz, das Zimmer.

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Kommentar von Eberhard Winkler - 9. April 2010:

Der Eduard ist der Vater einer meiner beiden Grossmütter, der Grete Winkler, geb. Neuhold, also einer meiner 4 Urgrossväter. 
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60. Unsere goldene Hochzeit

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     Niemand kann meine Traurigkeit über diese Umstände ermessen, wir hatten doch schon alle Vorbereitungen zu unserer goldenen Hochzeit getroffen. Es war nun die grösste Vorsicht geboten, die Frau in guter Laune zu erhalten. Als die Enkelin Anna in Smyrna und ihr Bräutigam, Anton Messner, alle nötigen Schriften zur Verehelichung beisammen hatten, kam ein neuer Marine-Kommandant nach Pola, der eine Verheiratung seiner Untergebenen durchaus nicht gestatten wollte. Erst durch Vermittlung des Herrn Generalkonsuls in Smyrna kam die Bewilligung zustande. Wegen des zweifelhaften Zustandes meiner lieben, armen Frau wollten wir nicht länger warten und der 30. Mai 1880 wurde zu unserem Jubiläum bestimmt.

     Schon der Seltenheit wegen bei Schreibern wurde die goldene Hochzeit beschlossen. Zu dieser kam auch aus besonderer Hochachtung gegen uns die erwähnte herzensgute Karoline. Herr Meister von Pettau und dessen Sohn sandten delikate Schinken.

     (150)  Die Schwester des Herrn Major Plank verfertigte aus echtem Goldpapier eine schöne Krone und dazu ein prachtvolles, gesticktes Polster. Frau Anna Ressler, Tochter des erwähnten Valentin Knaupert, welche bei unserer ersten Hochzeit Kranzljungfrau war, kam auch, mit der Tochter und dem Schwiegersohn, Herrn Göbmer, welcher ein Fass guten Bieres spendete. Dann kam noch die sehr ehrenwerte Familie Wawrinek und unser Sohn Eduard.

     Die ganze Gesellschaft ist dann in sechs Wägen durch die Griesgasse über die Lend zur Kirche St. Andrä gefahren. Der Knabe des Sohnes trug auf dem schönen Polster die Krone bis zum Altar. Die vom Polster herabhängenden seidenen Bänder wurden an der Seite des Knaben von den kleinen Töchtern des Herrn Gröbmer und des Sohnes Eduard gehalten. Während des langsamen Zuges zum Altar ertönte vom Chor ein Choralgesang.

     Ich wollte, dass der Kaplan Posch die Trauung vornähme, aber der alte gemütliche Pfarrer wollte sie selber abhalten. Dabei erlaubte er sich den Spass, bei den gewöhnlichen Fragen der Liebe und Treue an meine, nun 79jährige liebe Frau die Frage zu richten, ob sie auch künftighin die ehelichen Pflichten erfüllen wolle. Nach glücklich vollzogener Zeremonie fuhren wir auf dem obigen Umwege zu unserer Wohnung.

     Eine sehr gefällige Nachbarin stellte inzwischen die Tafel her, wozu der Hausherr eine prächtige Torte spendete. Frau Redler kam nicht dazu, da sie von der Kirche weg mit der Familie Gröbmer der Karoline zuliebe eine weitere Landspartie unternommen hatte. Doch alle bei der Tafel waren guter Laune. Nachdem davon viel übrig blieb, veranstaltete die Tochter abends eine Nachhochzeit, wozu die Schwester des Hausherrn und mehrere noch im Hause wohnhaft und gegen uns immer freundlich gewesene Personen, darunter die Sollizitatorswitwe Belowitsch geladen waren.

     Die ganze Geschichte kam in Barem auf 90 Gulden, wozu Frau Redler, Frl. Karoline und unser Sohn zusammen 25 Gulden beisteuerten. Wie bereits erwähnt, wurde ich vom Dienste bei Dr. Reedi, bei dem ich 9 Jahre Sollizitator war, am 30. Juni 1880 enthoben.

     Infolge der vielen ausgestandenen Schrecken mit meiner armen Frau hatte ich seit dem 31. Juli 1876 in meinen Händen ein starkes Zittern, welches immer ärger wurde. Mit der Feder ging es schon so schwer. Ich erkannte, dass ich kein Schreibergeschäft mehr antreten könnte. Wo ich mich zu anderen Beschäftigungen erkundigte, hiess es immer, es gibt junge Leute genug, die den Vorzug haben. Wir waren also auf die Gutherzigkeit des Sohnes angewiesen. Im Juli war seine Frau nach langer Krankheit gestorben, so zogen wir am 12. August 1880 zu ihm.
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Freitag, 2. April 2010

59. Der Dämon der Eifersucht erwacht

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     Von Pola bis Istrien machten die Marine-Mannschaften nach verschiedenen Gegenden per Dampfschiff öfter Exkursionen. Als einst  (148)  der Marine-Kommandant mit dem Schiff Pustozza nach Smyrna (Izmir) fuhr und die ganze Musikbande mitnahm, gab er dort auf dem Schiff ein grosses Konzert, wozu der Herr General-Konsul von Herzberg samt Familie und allen Nobeln geladen waren. Bei dieser Gelegenheit verliebte sich der Marine-Waffenmeister, Anton Messler, ein hübscher, angenehmer Mann aus Deutsch-Böhmen, in der Gegend der Stadt Brüx an der sächsischen Grenze in unsere Enkelin Anna, und fand Gegenliebe und die Heirat wurde mit Zustimmung der Herrschaft beschlossen.

     Wir selbst wollten am 31. Jänner 1880 unsere goldene Hochzeit feiern. Anna bat uns  aber brieflich, diesen Akt zu verschieben, da sie gleichzeitig mit uns in Graz ihre Vermählung halten wollte, die Schriften aber noch nicht in Ordnung wären.

     Marie wurde von der Gräfin Gleisbach als Kindsfrau empfohlen. Diese Gräfin kam dann in ihrer Equipage zu uns und wollte Marie bei sich haben. Da diese aber sah, dass die arme Mutter der besten Pfege bedurfte und die eigene Tochter sich zur Wartung mehr eignete als die fremde, so konnte sie den neuen Dienstauftrag nicht annehmen und musste die monatlichen 18 Gulden verschmerzen.

     Bei meiner wohl sehr bedauernswerten Frau erwachte unglücklicherweise wieder der Dämon der Eifersucht. Sie wollte in ihrem Wahn bemerkt haben, dass Marie mir besonders gewogen sei. Ich hatte nämlich in den Kanzleien, wo ich war, die nötigen Briefcouverts selbst verfertigt und machte seit 1876 viele solche, um noch einen Nebenverdienst zu erzielen. Um nun noch recht viele Couverts zu erzeugen, war ich täglich um 4 Uhr früh schon bei der Arbeit, wobei die Tochter mit Gummieren fleissig geholfen hat, bis es Zeit war, Frühstück zu machen. Nachdem meine Frau abends zeitlich zu Bett ging und ich immer noch bis 9 Uhr arbeitete, so blieb sie bei dem unausrottbaren Gedanken, zwischen mir und der leiblichen, eigenen Tochter bestehe ein heimliches, unerlaubtes Töchtelmächtel.

     War ich in der Holzlage mit Holzspalten beschäftigt und die Tochter kam mit einem Korb nach, um das zerkleinerte Brennholz in die Küche zu tragen, da wurde die arme unglückliche, mit dem grundlosen Wahn behaftete Frau vom Gedanken gequält, dass die Tochter mir aus besonderer, unlauterer Absicht nachgehe.

     Da ich nie eine übersprudelnde Redekraft besass, so war es mir auch diesmal nicht möglich, die arme, von so viel Leiden heimgesuchte, liebe Gattin von ihrem Hirngespinste zu befreien. So stellte ich ihr vor, dass ich in meinem Leben keinen Hang zur Schlechtigkeit hatte, sondern immer ehrlich und rechtschaffen mich betragen habe, und dass eine Niederträchtigkeit zwischen mir und der Tochter eine Unmöglichkeit sei,  (149)  dass ich in meiner ganzen Lebenszeit keinen Groschen für eine andere Frau ausgegeben, ausgenommen die Theaterausgabe. Aber alles blieb umsonst, ich behandelte die arme Frau noch immer mit einer unvergänglichen Liebe und Zärtlichkeit wie in den Flitterwochen.

     Selbst die Wohnungsnachbarin, die sich fast den ganzen Tag bei uns aufhielt, sagte sehr oft, dass ich wohl ein guter Mann sei. Diese Marquersleute zogen später fort. Dann kam ein gewesener Offizier namens Hofer, beschäftigt in der Kanzlei des Herrn Dr. Gmeiner. Die Frau Hofer kam anfangs selten, aber dann doch mehrmals zu uns herüber.

     Wenn die Tochter zum Einkaufen in die Stadt ging, blieb ich bei der lieben Gattin, bis die Tochter zurückkam, denn man durfte die arme Frau nicht alleine lassen. Als aber einst die Tochter länger in der Stadt blieb und die Kanzleistunde, 8 Uhr, schon geschlagen hatte, küsste ich meine sonst mit dem grossen Frauenherzen begabte Frau und sagte treuherzig zu ihr: «Behüt Dich Gott» und ging, in der Zuversicht, dass die Tochter bald da sein werde. Nach kaum einer halben Stunde kam die Tochter zu mir in die Kanzlei mit dem Jammer, dass sie bei ihrer Nachhausekunft die arme Frau und Mutter nicht angetroffen habe.
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